Es gibt Dinge, die macht man, weil man Spaß daran hat. Moped fahren, Schokolade essen, die DVD-Sammlung nach der Coverfarbe sortieren oder Springreiten, wer’s mag.
Dann gibt es Dinge, die macht man einfach so, aus Scheiss. Zum Beispiel versuchen, auf der Achterbahn ein Bier zu trinken, auf Straßenlaternen klettern oder seinen Namen in den Schnee pissen.
Natürlich gibt es auch Dinge, die muss man tun, weil man sonst mit den Konsequenzen leben muss. Aufs Klo gehen, den Müll rausbringen oder Zähne putzen.
Und dann gibt es eben noch diese Dinge, die gar keinen Sinn ergeben. Zu dieser Kategorie gehört meine erste Begegnung mit Hot Vit Lon, auch liebevoll „Baby Duck“ genannt.
Ich wurde während meiner letzten Reise durch Vietnam von meinem Kumpel Tien eingeladen, das chinesische Neujahr zusammen mit ihm und seiner Familie zu verbringen. Zu diesem Zweck fuhren wir, meine Freundin und ich, nach Chi Cong, einem kleinen Küstendorf in der Nähe von Phan Thiet. Traditionsgemäß wird während der dreitägigen Neujahrsfestivitäten ausschließlich gesoffen und Karaoke gesungen. Mal zuhause, mal bei den Nachbarn. Je nachdem, wo das Bier gerade kühler ist. Dabei ist es gerade als Gast von außerordentlicher Wichtigkeit, mit dem Bierkonsum des Hausherrn mitzuhalten, da dieser den Gast sonst mit höflicher Entschiedenheit zu mehr Trinkdisziplin ermahnt. In jedem Fall hat man immer ein Bier in der Hand.
Wenige Tage zuvor hatte ich in einem Artikel von einer schmackhaften Delikatesse gelesen, welche insbesondere in Vietnam und auf den Philippinen gereicht und von Klein und Groß vergöttert wird.
„Hot Vit Lon“ – noch eiiger als Ei, mit einem Hauch von Entenfleisch und in Kombination mit frischen Korianderblättern einfach nur himmlisch.
So in etwa wurde in dem Artikel der Geschmack von Hot Vit Lon bzw. Balut beschrieben. Der einzige Haken: es ist ein zwei Wochen alter Entenfötus, der aus seiner Schale gelöffelt wird. Aber aus unerfindlichen Gründen ging mir dieses Zeug nicht mehr aus dem Kopf. Ich verfiel innerlich in eine philosophische Grundsatzdiskussion mit mir selbst. Auf der einen Seite mein westlich geprägter Ernährungshabitus, auf der anderen Seite die Neugier. Es war also mehr ein Hinterfragen der eigenen Perspektive in Puncto Essensgewohnheiten.
Am Ende der Kausalkette stand die diplomatische Erkenntnis: wenn ich ein weichgekochtes, unbefruchtetes Ei essen kann und auch das fertige Endprodukt a.k.a. Ente, sollte ja auch das dazwischen zu managen sein.
Irgendwie brachte ich es jedenfalls fertig, während einer illustren Runde im Rahmen der betrunkenen Familie meinem Kumpel Tien von meiner neuesten Entdeckung „Hot Vit Lon“ zu berichten. Er sprang natürlich sofort darauf an und geriet ins Schwärmen, wie lecker das sei und auch seine kleine Schwester und überhaupt alle total darauf abfahren würden. „You wanna try one?“ war die logische Konsequenz seiner Ausführungen. Leicht alkoholgeschwängert und in Anbetracht meiner ausgeklügelten diskursiven Vorüberlegungen zu diesem Thema antwortete ich souverän: „Uhm… why not… maybe we’ll get one in the next days“. Oder so ähnlich. Natürlich stand am nächsten Morgen ein Ei auf dem Tisch und die gesamte Familie drum herum, um mir dabei zuzuschauen. Geil. Noch nicht mal n Kaffee gehabt und schon gibt’s Entenfötus.
Dabei sieht das Ei gar nicht mal schlimm aus. Ganz im Gegenteil: es ist ein ganz normales, unscheinbares, unschuldiges, weißes Ei. Was mir zu schaffen macht, ist meine Vorstellung davon, was mich darin erwartet. Die Metaphysik spielt mir hier einen ganz üblen kulinarischen Streich.
Ich halte das Ei in der Hand und winde mich innerlich wie ein frisch gefangener Aal auf dem Schiffsdeck. Tiens aufmunternde Worte „Come on, my little sister already had two today“ sind leider nur eine zweifelhafte Motivation. Aber jetzt einen Rückzieher machen? Auf gar keinen Fall.
Okay, Julian. Rational denken. Es ist nur eine Grauzone zwischen gerade gelegt und ausgewachsen, die du einfach nur noch nie betreten hast.
Also, was soll’s. Löffel angesetzt, kurz innehalten und dann rein. Die Schale bricht, der Löffel dringt durch eine mittelfeste Masse. Ich kann nur erahnen, was mich jetzt erwartet. Ich hebe den oberen Teil ab und blicke auf etwas, das aussieht wie eine Mischung aus einer Ofenmaroni und Gehirnmasse.
Am Rand hängt ein nasser Fellpuschel. Ah, Gefieder.
„Here, take some spices“, rät mir Tien. Danke, toller Tipp. Jetzt muss ich dieses Gemenge nur noch in meinen Mund kriegen, kauen und runterschlucken. Es ist nur das Zwischenstadium, in Lyoner backen sie ja auch Augen, Zirbeldrüsen und Hornspäne mit rein, sage ich mir innerlich immer wieder auf. Es hilft. Ich stecke mir den Löffel in den Mund und fange an zu kauen. Die Konsistenz ist neu und sonderbar, aber der Geschmack ist gar nicht so schlimm. Man darf nur nicht daran denken, dass man gerade auf einem halben Entenfötuskopf rumbeißt.
Ich arbeite mich bis zur Mitte vor, die verblüffend gut schmeckt. Naja, ist ja quasi Entenbrust in spe. Das muss schmecken. Tut es auch. Es hat geschmacklich tatsächlich etwas von einem weich gekochten Eigelb und zartem Hühnerfleisch. Zugegeben: es sieht richtig scheisse aus. Wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen und dann von einem Fahrrad überfahren wurde. Aber wer zuhause Tiere isst, deren sterbliche Überreste in ihren eigenen Darm gepresst wurden, braucht sich ja mal nicht zu beschweren. Da kann man ruhig auch mal ein Ei essen.
Die weiße Masse am Boden der Eierschale ist ziemlich ausgehärtet und hat etwas von porösem Fensterkitt. Schmeckt auch ungefähr so. Also relativ ungeil. Ich weiß offen gestanden auch bis heute nicht, was das für Zeug ist und welchen biologisch-ornithologischen Sinn das hat. Ob das einfach nur gegrilltes Eiweiß ist oder in der Entwicklung des Fötus‘ noch eine Rolle gespielt hätte, kann ich nicht sagen. Vielleicht kann mich ja jemand aufklären. Ich mach mir jetzt erstmal ein Leberwurstbrot.
Also merke:
Nicht alle Dinge, die keinen Sinn ergeben, sind auch gleichzeitig philosophisch nicht zu verwerten.
P.S.: Falls ich jemandem Appetit gemacht haben sollte, hier ein wunderbares Rezept für ein selbstgemachtes Hot Vit Lon.
Und natürlich vielen, vielen Dank an Tien und seine Familie für vier unvergessliche Tage!